Probefahrt mit Ladedruck

40 Jahre Renault Turbo

Der Renault R5 Turbo gehörte mit seinen anabolisch aufgeblähten hinteren Kotflügeln wohl zu den spektakulärsten Erscheinungen auf der Straße. Eine Annäherung.

Für Renault war es wie eine Mondladung. Nur zehn Jahre später. Gerade hatte das Team der französischen Marke ihren ersten Formel-1-Grand-Prix gewonnen, Fahrer, Mechaniker und die halbe Grande Nation waren aus dem Häuschen, weil das Kunststück noch dazu mit einem innovativen Motor gelungen war – dem Turbo-Aggregat. Zum Jubiläum ließ Renault groß auffahren: mit einem Concours historischer Modelle und zwei prominenten Altmeistern der Strecke.

Erst in der Summe wird deutlich, wie sehr die Automarke mit der Raute bemüht war, Erfahrungen aus dem Rennsport für die Großserienproduktion zu nutzen und wie viele Personenwagen sie schon in den 80er Jahren mit Turbomotor auf den Markt gebracht hat. Der Triumph im Rennen von Dijon am 1. Juli 1979 war kein Zufallsprodukt, sondern zwei Jahre lang mit technischen Defekten, Rennausfällen, Rückschlägen und Enttäuschungen sehr mühsam erarbeitet. 

Der Mann, der auf dem Foto von der Siegerehrung mit einem dicken Lorbeerkranz umhängt ist und demütig den Kopf senkt, ist Jean-Pierre Jabouille. Heute ist er 76 Jahre alt, ein schlanker, drahtiger Mann, der auch in fortgeschrittenem Alter keine Mühe hat, sich in die feuerfeste Rennkombi zu zwängen und den Helm aufzusetzen. Er tut dies gern für seinen ehemaligen Arbeitgeber Renault. Während ein Moderator vollmundig dessen Verdienste rühmt, steht Jabouille lässig an der Seite und nippt an einem Espresso. Gleich soll er in das Auto seines Formel-1-Triumphs klettern.

Das Originalfahrzeug aus der Saison 1979 bietet dem Renn-Senior ein gewisses Entgegenkommen. Die obere Schale der Verkleidung kann abgenommen werden und erleichtert so den Zustieg in die schmale Sitzmulde. Gurte, Helm, alles wie damals – auch die Lautstärke. Der V6-Benziner hat zwar nur 1,5 Liter Hubraum, röchelt, schreit, spuckt und rasselt aber wie ein Großer. Auf dem kleinen, engen Trainingskurs Circuit de la Ferté Gaucher lässt Jabouille es gemütlich angehen. Er weiß, auch nach 40 Jahren kommt einem echten F1-Boliden die Bockbeinigkeit nicht abhanden. Beschleunigen ist nur ganz verhalten drin, denn die engen Kurven könnten Pilot und Wagen kaum schaffen, wenn die 520 PS mal richtig von der Leine gelassen würden.

Aus der Boxengasse heraus beobachtet René Arnoux das Geschehen. Er ist fünf Jahre jünger als Jabouille und war 1979 dessen Team-Kamerad. Legendär sind seine Positionskämpfe mit Ferrari-Pilot Gilles Villeneuve auf der Piste von Dijon, der am Ende Zweiter wurde. Die Plätze eins und drei beim französischen Grand Prix waren Auftakt für eine lange Reihe von Renault-Erfolgen: Bis heute konnten 177 Siege und 507 Podiumsplatzierungen errungen werden. Nachdem Renault mit dem Start des Turbo-Programms in der Formel 1 vorangegangen war, zogen auch andere prominente Motorsportmarken nach. Ferrari, BMW, Porsche und Honda setzten ihrerseits auf die segensreiche Wirkung der verdichteten Verbrennungsluft.

Aber was hatte der Renault-Kunde von den kostspieligen Experimenten in der „Königsklasse“ des Motorsports? Gern wird Rennsport als Entwicklungslabor für Techniken dargestellt, die Fortschritt in der Großserie bringen. Für Cyril Abiteboul, Geschäftsführer von Renault Sport Racing, ist die Turbotechnologie „zweifellos eine der kühnsten und visionärsten Ideen in der Geschichte des Motorsports“. Umgesetzt in Großserienautos sei der Turbo „mittlerweile Teil unseres Alltags geworden und ein Symbol für Kraft, Geschwindigkeit und Fortschritt“. 

Nur wenige Hersteller haben den Abgasturbolader so früh und so konsequent in ihren Alltagsautos zum Einsatz gebracht wie Renault. Die Aufstellung am Kurs von Ferté Gaucher beweist das. 15 Fahrzeuge aus der Zeit von 1980 bis heute dokumentieren das Bekenntnis zur Leistungssteigerung in den unterschiedlichsten Segmenten. Der Kleinwagen R5 Turbo gehörte mit seinen anabolisch aufgeblähten hinteren Kotflügeln wohl zu den spektakulärsten Erscheinungen auf der Straße. Durch Temperaturprobleme und vereinzeltes Feuer an Bord hatte er schnell einen Ruf als besonders „heißes Eisen“ weg.

Dass Turbo-Kraft und höchster Komfort keine Widersprüche waren, bewies Ende der 80er Jahre der Renault 25 V6 Baccara, dessen wulstige Ledersessel zwar wenig Halt in schnellen Kurven boten, dafür aber das Ausstattungsniveau keine Wünsche offen ließ. Dazwischen lagen Modelle wie der Fuego Turbo oder der Safrane Biturbo. Der Mégane R.S. repräsentiert den aktuellen Entwicklungsstand mit 300 PS. 

Die Probefahrt in einem Renault 5 Turbo ist wie ein Date mit der Comicfigur Popeye. Der Seemann mit den Muskelpaketen fängt sich ähnliche ungläubige Blicke ein, wie der zum Sportgerät mutierte Kleinwagen, mit dem Jean Ragnotti 1981 die Rallye Monte Carlo gewann. Stolze 20,2 Zentimeter beträgt die Karosserie-Verbreiterung an der Hinterachse und das aus guten Grund: Das ursprünglich als Fronttriebler konzipierte Fahrzeug wurde unversehens zum Mittelmotor-Renner, als man beschloss, die Rücksitzbank zu entfernen und dort den 1,4 Liter kleinen Motor zu platzieren. Außerdem wurde der im Unterschied zum Wagen mit Vorderradantrieb längs anstatt quer eingebaut. 160 PS für rund 900 Kilogramm Eigengewicht lassen ein enormes Temperament vermuten.

Feingefühl in beiden Fußgelenken ist eine gute Voraussetzung für eine entspannte Fahrt in dem betagten Sportwagen. Das Kupplungspedal hat schon einen gefühlten Meter Weg zurückgelegt, ohne dass sich so etwas wie Kraftschluss eingestellt hätte. Dafür verlangt das Gaspedal nur eine ganz zärtliche Berührung, um den Vierzylinder hochjaulen zu lassen. Wer genau hinhört, kann das Pfeifen des Turbos vernehmen, wenn er mal wieder tief Luft holt. Der Verzicht auf Antriebstechnik unter der Fronthaube wirkt sich positiv auf die Lenkbarkeit aus: Es ist eine Menge Gewicht nach hinten gewandert und deshalb lenkt es sich auch ohne Servo-Unterstützung leicht und bequem. Allerdings wird ein ordentlicher Einschlag gefordert, um die Fuhre zielgenau um die Kehre zu bugsieren. Die dicken Hinterrad-Walzen bringen die Antriebskraft gut auf die Straße, von Ausbruchsversuchen ist nichts zu spüren. 

Ebenso wenig ist spürbar, ob denn für die Ausfahrt aus der Kurve die geeignete Übersetzung anliegt. Wenn für ein Getriebe das Wort „ausgelutscht“ angebracht ist, dann für diese Fünf-Gang-Schaltbox des historischen Renault 5. Außerdem sind Fahrwerk und Sitze nach heutigen Maßstäben viel zu weich, die Seitenneigung ist erheblich, besonders in der schnellen Links-Rechts-Kombination zur Mitte des Kurses.
Freilich wird die Abwesenheit eines souveränen Fahrverhaltens nicht als störend empfunden. Vielmehr macht der pure und ursprüngliche Auftritt des Bonsai-Sportlers einen Heidenspaß. Pausbacken hin oder her: Autofahren in so ehrlicher und unverfälschter Form ist zu einer Seltenheit geworden. Und die ausgestellten Kotflügel haben noch nicht einmal etwas mit Imponiergehabe zu tun. Irgendwo muss die Luft ja herkommen, die der Turbo zum Befeuern der Fuhre braucht.

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