Das ist Ouninpohja

"Begrabt mein Herz an der Biegung der Straße"

Wenn es irgendwo auf der Welt einen Mittelpunkt des Rallyesports gibt, dann ist er hier. Ouninpohja ist der Dinosaurier unter den Wertungsprüfungen: wild, alt, arglistig, vom Aussterben bedroht und ganz sicher ein Fleischfresser.

Wozu hat man Freunde, wenn nicht, um von ihnen unbequeme Wahrheiten zu erfahren? „Wenn du sicher sein willst, welchen Beruf du niemals ergreifen solltest, dann geh nach Ouninpohja“, sagte ein Freund vor vielen Jahren. Die warnende Botschaft weckte natürlich Neugier, und so ging der erste Tagesausflug an einen Ort, für den eigens der Ausdruck hinterwäldlerisch erfunden wurde und über den Rallye-Poet Gianluigi Galli dichtet: „Ouninpohja ist ein ganzes Universum.“ 

Ouninpohja ist nicht einmal ein Ort. An einer Zunge des Isojärvi, einem langgestreckten See, eine runde Autostunde südlich von Jyväskylä, baute einst der Vater von Seppo Ouni ein rotes Holzhaus auf einen Hügel. Die Gegend wurde fortan Ounis Bucht genannt, was auf Finnisch Ouninpohja bedeutet. In den Sechzigern hockte schon Timo Mäkinen in Ounis Sauna, später auch Timo Salonen und andere Rallyegrößen. Der Großbauer und Holzhändler Seppo Ouni starb vor einigen Jahren und hat nicht mehr erlebt, wie eine Straße, die seinen Namen trägt, so berühmt wurde, dass Sportartikelhersteller Puma gar eine eigene Modelinie entwarf, die seinen Namen trug. 

„Es gibt keine andere Prüfung, die so schnell ist und gleichzeitig so viele Sprünge hat“, versucht Finnlands Rekord-Sieger Marcus Grönholm dem Phänomen Ouninpohja auf die Spur zu kommen. 169 Kuppen lauern in den Aufzeichnungen der Beifahrer und bei 100 davon heben die Autos ab. „Wenn du dich wirklich was traust, kannst du auf der einen Kuppe abspringen und auf der Abfahrt der nächsten landen“, sagt der frühere Streckenchef Simo Lampinen. Der dreimalige Finnland-Sieger schätzt, dass er die Prüfung gut und gerne 300 Mal absolviert hat, „bis auf das eine Mal, als ich mit meinem Saab abgeflogen bin und sofort weiter wollte, aber nicht konnte, weil die Hinterachse noch im Wald lag.“ 

Wegen der zahllosen Sprünge ist die perfekte Linie in Ouninpohja wichtiger als auf jeder anderen Prüfung der Welt. „Für Anfänger ein Albtraum“, sagt Grönholm-Beifahrer Timo Rautiainen „Wenn du auf der ersten Kuppe falsch abspringst, findest du dich auf der vierten ganz woanders wieder“, meinte Aaron Burkart vor seinem Finnland-Debüt beeindruckt. 

Als die Fahrer noch beliebig oft und mit vollem Speed trainieren durften, konnten auch einige Mitteleuropäer in Finnland schnell fahren, dennoch blieb Ouninpohja den meisten ein Geheimnis. „Ich habe nie einen perfekten Durchgang hinbekommen“, klagt der Spanier Carlos Sainz, immerhin einer von nur drei nicht skandinavischen Finnland-Siegern der Geschichte. Seit nur noch zwei Besichtigungstouren mit maximal 80 km/h erlaubt sind, ist es für nicht mit mittelfinnischer Muttermilch aufgezogene Helden noch schwieriger geworden. „Wenn du im Ziel ein gutes Gefühl hast und siehst, dass du mit acht Sekunden hinten liegst, was willst du dann tun?“ fragt Sébastien Loeb. „Ouninpohja ist eine Prüfung für Machos“, behauptet das Programmheft, und wer das dickste Gemächt hat, kann weniger Wahnsinnigen leicht eine halbe Minute aufbrummen. 

„Viele Kurven liegen direkt auf einer Kuppe, das ist auf anderen finnischen Prüfungen nicht so“, sagt Mikko Hirvonen und gerät sogleich ins Schwärmen: „Wenn du auf so eine blinde Ecke zufährst, das Auto vorher quer stellst und sideways über die Kante springst, das ist das Größte überhaupt.“ Wie sehr das in die Hose gehen kann, musste Dani Sordo im Vorjahr erfahren, als er eineinhalb Kilometer vor dem Ouni-Haus hinter einer blinden Rechts Vier über Kuppe in die Felsen einschlug. Seitdem ist die Stelle bei Wrackräubern aller Nationen äußerst beliebt. 

Auch für die Beifahrer ist Ouninpohja eine außergewöhnliche Übung. „Es gibt viele leichte Kurven, die du als solche gar nicht wahrnimmst. Du musst in Ouninpohja schneller lesen als auf jeder anderen Prüfung. So redest du manchmal kilometerlang bla bla und hoffst, dass du immer noch an der richtigen Stelle bist“, sagt Timo Rautiainen. Nur einmal in den letzten acht Jahren schwieg er ergriffen. Nach einer harten Landung entschied das Gehirn, eine eingeklemmte Bandscheibe habe Priorität vor dem Sprachzentrum. „Du musst schon einen ganz schönen Knall haben, um das hier spaßig zu finden“, sagt Manfred Stohls Navigatorin Ilka Minor. 

Spaß? Spaß haben die wenigsten in Ouninpohja. „Es ist manchmal ganz schön beängstigend“, sagt Marcus Grönholm. Selbst Petter Solberg, der seit seinem Rekord behauptet, dies sei die beste Prüfung der Welt, eben weil sie so gefährlich wäre, gibt zu: „Du fährst die ganze Zeit mit zusammengezogenen Schultern.“ Der Spaß kommt in Ouninpohja erst dann, wenn es vorbei ist. „Du bist die ganze Zeit voll mit Adrenalin, und wenn du es dann geschafft hast, ist das ein tolles Gefühl“, sagt Mikko Hirvonen, der in diesem Jahr fast seinen Ford Focus in der schnellen Links vor der Kakaristo-Kurve geschafft hätte. Beim Angriff auf Teamkollege Grönholm hatte er die Ideallinie einen Meter zu weit nach rechts verlegt. Der Hintern des Focus hing schon im Graben, doch Hirvonen rettete sich zurück auf die Straße, um anschließend bei weiteren drei Gelegenheiten fast abzufliegen. „In Kakaristo standen so viele Leute, wenn ich da rausgerutscht wäre, hätte ich mich nur noch auf die Straße stellen und verbeugen können“, sagte Hirvonen im Ziel. 

Die Kakaristo-Spitzkehre ist neben vier 90-Grad-Ecken die einzig langsamere Kurve auf der gesamten Prüfung. Trotz des hohen Tempos und der unzähligen Bäume und Felsen am Straßenrand ist die Unfallstatistik in Ouninpohja erstaunlich harmlos. In den sechziger Jahren gab es den letzten tödlichen Unfall, seit drei Jahrzehnten haben sich zwar reichlich Rohkarossen ihr Rückrad gebrochen, doch die Insassen blieben fast immer heil. 

Wenn auch nicht die Knochen, so haben doch einige Egos schwere Blessuren in Ouninpohja erlitten. Sebastian Lindholm war 2004 mit einem Peugeot 307 auf dem besten Weg, sich vom Fast-Rallye-Rentner zum spät berufenen Werkspiloten zu mausern, da eierte er direkt hinter der schnellen Rechts bergab hinter dem Ouni-Haus mit gestrecktem Salto in die Büsche. Sein Cousin Marcus Grönholm gewann in den letzten acht Jahren sieben Mal in Finnland.  Defektes Radlager hieß die Begründung für das Jahr 2003, der einzige Makel auf der Statistik des Tabellenführers. Augenzeugen schwören indes, Grönholm habe einen Fels getroffen. 

Richard Burns war 2002 auf dem besten Wege, das zu schaffen, was Colin McRae nie gelungen war: der Sieg in Finnland. Bei McRae lautete die Frage stets: Haben die Bäume mehr Angst vor dem Schotten, als er vor den Bäumen? Doch Burns war ganz nah dran, bis er einen Sprung mit so viel Schwung nahm, dass sich sein Peugeot bei der Landung einen Knöchel verknackste. Das war Grönholm eine Lehre. Er nimmt die schnellsten Kuppen niemals voll: „Hier kannst du nur verlieren.“ 

Seit einigen Jahren misst ein Team der Zeitschrift Vauhdin Maailma die Absprunggeschwindigkeiten und Sprungweiten an der berühmtesten Stelle von Ouninpohja, dem Sprung beim gelben Haus. Die Mannen mit den gelben Westen sind 2007 nicht allzu optimistisch, dass der Rekord fallen wird. Sie haben nur bis 55 Meter abgesteckt. Zwei Meter weiter steckt ein kleines estisches Fähnchen in der Erde, wo Markko Märtin bei seinem Sieg 2003 landete. „Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Todesangst hatte“, sagt Jari, der seit 1999 jedes Jahr nach Ouninpohja pilgert. Märtins Ford flog so hoch und so weit, dass der Endvierziger die Beschriftung des Unterbodens lesen konnte. Seitdem steht er lieber am Absprungpunkt. Das scheint weniger gefährlich. Weil er sich „heute so international“ gefühlt hat, steht er mitten in einem Grüppchen Italiener, die den besten Platz direkt an der Kuppe okkupiert haben. 

Marco Rossi arbeitet in seinem zivilen Leben für James Bond. Er ist Waffendesigner bei Beretta. Der junge Mann aus Brescia ist mit sieben Freunden nach Ouninpohja gekommen, obwohl Nationalheld Gigi Galli nicht am Start ist. Als Erinnerung an dessen großen Auftritt 2006 tragen alle Hahnenkammperücken. Auch bei den Finnen hat Galli einen Stein im Brett. Er verpasste 2005 den Märtin-Rekord nur um einen Meter.

Rossi und seine Truppe haben auf frisch gemachtem Heu direkt neben der Kuppe geschlafen. Am Abend gab es Pasta und frischen Kaffee. Davor haben sie vergeblich versucht, mit dem gemieteten Ford Transit auf der Kuppe abzuheben. Der Plan, alle Sitze zwecks Gewichtsersparnis rauszureißen, wurde zügig verworfen. „Es liegt am Fahrer, der taugt nichts“, sagt Marco selbstkritisch. Weil Galli nicht da ist, feuern die Italiener nun Marcus Grönholm an. „Wir mögen Loeb nicht, der ist Franzose“, erklärt Rossi schief lächelnd. Weil er merkt, das diese Erklärung etwas dünn ist, schiebt er nach: „Du erinnerst dich an letztes Jahr – Materazzi und Zidane?“ 

Die Finnen haben es mit der Identifikation nicht ganz so einfach. Schließlich müssen sie sich nicht nur zwischen Grönholm, Hirvonen und Latvala, sondern zusätzlich noch zwischen „Koff“, „Karjala“ und „Lapin Kulta“ in Flasche oder Dose entscheiden. Weil es bekanntermaßen nicht gesund ist, verschiedene Biersorten einfach ohne Sinn und Verstand durcheinander zu trinken, benutzt der Finne Wodka als Bindemittel.

Dementsprechend gut ist die Stimmung auf der großen Wiese, die den See von Ounis Haus trennt. Ouninpohja ist hier von einem Nürburgring-Campingplatz beim 24 Stundenrennen kaum zu unterscheiden. Eine angetrunkene Finnin hat eine Imitation des zuweilen unnötig strengen Verhaltens der Streckenposten eingeübt und geleitet die vorbeiziehenden Fans schwankend, aber mit gewichtiger Miene an ihrem Zelt vorbei. Ihr Freund ist sturzbetrunken und versucht, Wegezoll in einem Kugelgrill zu kassieren. Dass es noch Besoffenere als ihn gibt, beweist die Tatsache, dass er in seiner zur Kollekte-Schale umfunktionierten Grillschüssel bereits drei Fünf-Euro-Scheine gesammelt hat. Na ja, vielleicht brauchte er auch nur Papier, um das Feuer anzukriegen. 

Es sind nicht ganz so viele Zuschauer am „Yellow House Jump“ wie sonst. Vielleicht haben sie geahnt dass die Flugshow in diesem Jahr nur großartig, statt total überirdisch sensationell sein würde. „Du weißt, dass die Kuppe mit 178 Sachen geht, aber es ist jedes Mal eine Überwindung, sie voll zu nehmen“, sagt Mikko Hirvonen. Er hat vor der Rallye versprochen, keine Gefangenen zu machen, doch er überlegt es sich anders. Gerade 162 km/h schafft er am Schanzentisch. Die offiziell am Hinterrad gemessene Flugweite beträgt 42 Meter, das bleibt die Tagesbestmarke. Die größte Show liefert jedoch Anton Alén, der im 50 PS schwächeren Fiat Punto Super 2000 genauso weit, aber über einen halben Meter höher springt. Die Fotografen und Kameraleute waren da leider alle schon weg. 

Das mäßige Niveau im Weitsprung-Wettbewerb versucht Chris Atkinson zu erklären. „Vielleicht sind die Fahrer cleverer geworden“, sagt ausgerechnet der Mann, der mit seinem Subaru ein Jahr zuvor in Sardinien noch versuchte, den Himmel zu berühren. 

Drei Schikanen haben die finnischen Veranstalter aufgestellt, um das Tempo zu senken. „Sonst ist Ouninpohja so schnell, dass du mit einem Helikopter nicht folgen kannst“, sagt einer der Hubschrauber-Piloten. Strohballen zwingen zum Bremsen, wo die Autos sonst teilweise über eine Minute am Stück Vollgas fahren, was etwa Tempo 200 bedeutet, und dabei reden wir keineswegs über eine Gerade. „Mensch, das war die einzige Passage, wo man sich mal ausruhen konnte“, mault Marcus Grönholm über die Barrieren. Besonders der dritte Heuballen ist den Akteuren ein Dorn im Auge, weil er hinter einer blinden Kuppe lauert. Doch die Schikane ist weniger wegen des hohen Durchschnittstempos errichtet als viel mehr als Gebäudeversicherung vorgesehen: „In den letzten Jahren gab es da viele Unfälle und ein Hausbesitzer hatte Angst, weil die Einschläge immer näher kamen“, erklärt der stellvertretende Streckenchef Seppo Harjanne. 

Ob die wildeste aller Rallyestrecken in ihrer vollen Pracht und Entsetzlichkeit auch 2008 Teil der Rallye Finnland ist, kann auch Seppo Harjanne nicht garantieren. Ouninpohja ist ein Ding aus einer anderen Zeit und steht auf der Liste der bedrohten Arten. „24 Stunden danach kann man es so langsam wieder gut finden, aber als wir unterwegs waren, habe ich gedacht, warum tun wir uns das an? Wir sind an Stellen abgehoben, wo wir noch nie geflogen sind, und wir landeten an Orten, die wir noch nie betreten haben“, sagt Timo Rautiainen bei der Siegerpressekonferenz. Es klingt ein bisschen, als sei er soeben von einer glorreichen Mission des finnischen Raumfahrtprogramms zurückgekehrt. Es ist der gleiche Timo Rautiainen, der vor der Rallye noch gesagt hatte: „Eine Prüfung dieser Art sollte es im Kalender geben.“ 

„Du wirst eben langsam alt“, stichelt Hirvonen-Beifahrer Jarmo Lehtinen. Während die heißen Jungfüchse wie Jari-Matti Latvala mit tropfenden Lefzen schwärmen: „Ich kann es gar nicht erwarten, hier mit dem Auto zu tanzen“, fällt es den Routiniers zunehmend schwerer das zu tun, was Petter Solberg als unerlässlich für eine gute Ouninpohja-Zeit erachtet: „Du solltest dein Hirn besser am Service-Platz lassen.“ Seinem Beifahrer Phil Mills macht diese Übung sichtlich Probleme. Er war vor drei Jahren einer der lautesten Fürsprecher für die Teilung in zwei langsamere Hälften. Doch Seppo Harjanne lässt die Einwände der Aktiven nur bedingt gelten. „In erster Linie machen wir das hier nicht für die Fahrer, sondern für die Zuschauer.“

Die sind nun größtenteils wieder abgewandert, und überlassen diesen Ort wie jedes Jahr seiner 364-tägigen Bedeutungslosigkeit für die Weltgeschichte. Wenn dann die letzten Hardrock-Polkas verklungen sind und der Motorenlärm verebbt, wenn zwischen Ounis Bucht und dem gelben Haus wieder Stille eingekehrt ist, dann kann man – wenn man ganz genau hinhört - ganz leise das Pochen hören. Irgendwo da unten, tief in der Erde schlägt seit eh und je das Herz des Rallyesports. Wenn es eines Tages so weit ist, legt mich daneben.

Quelle: rallye - Das Magazin (09/2007)

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