Nachbau einer Legende

Audi S1 Pikes Peak: Gipfelstürmer

Vom Beamtenauto zum ultimativen Monster: Eigentlich wollte Stephan Süsens aus der von ihm erworbenen Audi 80 Limousine einen gewöhnlichen Sport Quattro machen. Doch dann kam alles anders – und der leidenschaftliche Karosseriebauer musste sein Projekt wohl oder übel in andere Bahnen lenken.

„Viel Spaß mit dem Wagen, und immer schön pfleglich behandeln“, diese Worte klingen Stephan Süsens auch nach über sechs Jahren noch in den Ohren. Ausgesprochen hat sie der Vorbesitzer seines Audis. „Ein 75-jähriger Opa, der nicht mehr gut sehen konnte“, beschreibt der Ostfriese in herrlich nordischem Akzent, der einen geistig direkt in einen Fischkudder versetzt. „Der Mann hat immer selbst an seinem Auto gebastelt, hatte sogar einen Werkzeugkasten im Kofferraum.“

75-jähriger Opa? Kofferraum? Meine Augen scannen das vor uns stehende Objekt von oben nach unten, von hinten nach vorn. Das Fragezeichen aber bleibt. Dann die Erkenntnis: Da hat der Ostfriese – auf dessen Kosten die ganze Nation jahrzehntelang Witze gemacht hat – doch glatt den Spieß rumgedreht und macht sich jetzt über uns lustig. „Nee, kein Scheiß“, schiebt Stephan Süsens sogleich hinterher, als wollte er die unausgesprochene Erkenntnis widerlegen. „Dieses Auto hat tatsächlich einem 75-jährigen Rentner gehört – aber damals sah der Wagen noch ein wenig anders aus ...“

Damals fuhr Süsens mit einer gewöhnlichen Audi 80 Limousine vom Hof des Pensionärs. „Ein klassisches Beamtenauto“, wie der neue Besitzer befindet. Schon beim Kauf war ihm klar, dass der Wagen nicht lange in seiner ursprünglichen Form bestehen bleiben sollte. Was für ein Teufelswerk der Ostfriese auf die Räder stellen würde, das war damals jedoch noch nicht abzusehen. Süsens wollte den Audi 80 eigentlich in ein Sport-Quattro-Straßenauto verwandeln. Einst als hässliches Entlein verschrien, hat sich das Gruppe-B-Basismodell mittlerweile zu einem wertvollen Sammlergut gemausert. Die 200 Originale werden selten bis gar nicht gehandelt.

Doch Stephan Süsens hatte Glück. Kurz nach dem Kauf der Biedermeier-Limousine kam ein echter Sport Quattro auf den Markt – und der Unternehmer aus Ostrhauderfehn schlug eiskalt zu. Damit hatte er das eigentliche Objekt der Begierde, und das gar als Original.

„Was nun?“, fragte sich der Hobby-Schrauber. Dann fiel ihm ein Zeitungsartikel ein, der ihn zwei Jahrzehnten zuvor fasziniert hatte. „Der Röhrl ist mit dem S1 doch mal den Pikes Peak hoch. So ein Auto hat könnte man doch mal nachbauen.“ Was sich nach einer Idee anhört, die erst nach zu vielen Runden Friesengeist geboren wurde und am nächsten Tag noch vor dem Kater verschwunden ist, steht nun leibhaftig vor uns. 4,240 Meter lang, 1,860 Meter hoch und 1,344 Meter breit, und mit so viel Testosteron geschwängert wie ein Elefantenbulle zur Brunftzeit.

Der Verrückteste von allen

Der S1 Pikes Peak ist Big Foot, Yeti und Frankenstein in einem. Die Personifizierung des Gruppe-B-Monsters. Ein Geschoss, das direkt aus der Hölle zu kommen scheint, um gen Himmel zu stürmen. Gebaut für das „Race to the Clouds“, 19,984 Kilometer mit 156 Kurven. Röhrl nannte ihn den „stärksten und verrücktesten S1, den es je geben sollte“. 1987 sollte er am Pikes Peak die Erfolgsgeschichte von Audi fortschreiben – mit dem sechsten Sieg in Serie.

Doch die Konkurrenz war stärker als je zuvor. Die Werksmannschaft von Peugeot war nach dem Ende der Gruppe B praktisch beschäftigungslos, daher schickte Jean Todt seine Mannen mit drei 205 T16 nach Colorado. Am Steuer der auf 800 Kilo abgespeckten und auf 550 PS aufgeplusterten Löwen saßen Ari Vatanen, Andrea Zanussi und Shekhar Mehta. VW wagte die Reise mit Jochi Kleint und einem Bimotor-Golf, dessen kumulierte Leistung mit 650 PS angegeben wurde.

Audi schickte Röhrl mit 600 PS bei 1.000 Kilogramm Gewicht in die Manege, von denen auf dem Gipfel des Pikes Peak auf 4.301 Metern Höhe noch 450 übrig gewesen sein sollen. Die reichten dem Langen, um den bestehenden Rekord förmlich zu pulverisieren. Röhrl bezwang den Berg der Berge in 10:47.850 Minuten und war damit über 20 Sekunden schneller als Bobby Unser ein Jahr zuvor in einem braveren S1. Der VW fiel aus, die Peugeot waren trotz mächtigerem Flügelwerk chancenlos. Sieben Sekunden Rückstand für Vatanen. Einen besseren Abschied hätte Audi dem S1 nicht geben können: Der stärkste Rallye-Quattro aller Zeiten war auf dem Gipfel angelangt, und die Welt schaute staunend zu ihm auf.

Doch zurück nach Ostfriesland, wo der Aufstieg zum Nordsee-Deich unter Radfahrern schon als Bergetappe gilt. Kein Wunder, liegt der Ortskern von Süsens‘ Wohnort Ostrhauderfehn doch stolze zwei Meter über dem Meeresspiegel. Ausgerechnet auf dem flachen Land steht nun so ein Berg-Monster vor uns, das mit dem früheren Beamtenauto rein gar nichts mehr gemeinsam zu haben scheint. Dabei hat sich Süsens nur an der Vorgehensweise von Audi orientiert. Die Ingolstädter haben beim Bau der 200 Sport Quattro bis zur B-Säule die Bodengruppe des Audi 80 genommen und das Heck des Quattro drangeschweißt.

Der leidenschaftliche Karosseriebauer, der im richtigen Leben Büros und Supermärkte mit Klimaanlagen ausstattet, ging denselben mühsamen Weg. Das Resultat kann sich aber auch auf den zweiten und dritten Blick sehen lassen. Vom eigenwilligen Frontspoiler über den NACA-Einlass im Dach bis hin zum Doppelflügel hinten ist die Süsens-Kopie seinem Vorbild optisch bis ins kleinste Detail nachempfunden. Anders als bei vielen anderen Repliken sind die Anbauteile sogar aus Kevlar und nicht aus dem günstigeren Stahl.

Erstaunlicherweise liegt das Süsens-Auto in puncto Gewicht gar unter dem Niveau des Siegerwagens. „Ich kann mir das gar nicht erklären. Wir haben den Käfig genauso geschweißt wie Audi, wir haben wirklich alles mit Fotos abgeglichen. Auf der Rennstrecke in Papenburg kamen wir mit zwei Personen an Bord auf 1.090 Kilogramm, das bedeutet ein Leergewicht von gut 920 Kilo“, rechnet der Ostfriese vor.

Ein Grund für den Gewichtsunterschied könnte im Antriebsstrang liegen, der sich gravierend vom Original unterscheidet. „Wir haben 30.000 Euro in den Motor gesteckt. Bei einem Original wären es wohl eher 150.000 Euro“, erklärt Süsens, der den Fünfzylinder-Turbo aus einer Audi S4 Limousine (Kennung AAN) unter die S1-Motorhaube verpflanzt hat. Mit 2.226 Kubik ist der Hubraum marginal größer als bei Röhrls Ritt zu den Wolken, wo ein Alu-Block mit 2110 ccm seinen Dienst verrichtete. Kombiniert wird der 20-Ventiler mit einem Sechs-Gang-Getriebe aus dem Audi S6 (Kennung CBL) mit Serienübersetzung. „Normalerweise müsste man sich ein neues Getriebe bauen lassen, aber das ist unbezahlbar“, so Süsens.

An Leistung sollte es dem S1-Besitzer trotzdem nicht mangeln: „Mit E85-Sprit haben wir bei einem Ladedruck von 3 bar 690 PS gemessen, mit normalem Super-Benzin kommen wir bei 600 raus“, erklärt Süsens in einer Tonlage, als würde er gerade ein Kochrezept vorlesen. Erneutes Fragezeichen im Gesicht. Hat er tatsächlich von 600 bis 690 PS gesprochen? Und wieder kommt uns der Ostfriese zuvor. „Den Sprint auf 100 km/h schaffen wir in unter drei Sekunden. Aber eigentlich ist die Leistung gar nicht so wichtig. Wir wollen eine geile Show bieten. Da muss Feuer aus dem Auspuff kommen und der Sound muss stimmen.“

Der Sound muss stimmen

Apropos Sound: Das Zwitschern beim Lupfen des Gaspedals ist ja eines der markantesten Geräusche, die je auf dem Col de Turini, dem Colle Langan oder in Ouninpohja zu hören waren. So eindeutig zu erkennen wie der Ruf des Kuckucks oder das Klopfen des Spechts. Und auch hier enttäuscht der Süsens-S1 nicht. „Das schöne Zwitschern haben wir im Juni endlich hinbekommen“, berichtet der stolze Besitzer. „Man muss das ‚Blow-Off-Ventil‘ richtig einstellen. Das ist für die Leistungsentfaltung zwar nachteilig, aber jetzt läuft einem ein wohliger Schauer über den Rücken, wenn man das Auto hört.“ So weit kann Liebe zum Detail gehen.

Stolze 1.500 Arbeitsstunden hat Süsens laut eigener Aussage an seinem Auto gewerkelt und 50.000 Euro investiert – die eigene Leistung nicht eingerechnet. Jetzt ist auch sein erstes Rallyeauto bereit für den ersten Einsatz. Bisher beschränkte sich die Sammlung des Klimatechnik-Spezialisten, dessen Firma beschauliche drei Mitarbeiter beschäftigt, auf Straßenautos ganz unterschiedlicher Couleur: vier Land Rover („danach war ich als Kind verrückt“), ein Austin Healey 3000, ein Shelby GT500 alias „Eleanor“ sowie der eingangs erwähnte Sport Quattro.

Die Verwandlung eines Beamtenauto zum größten Rallye-Monster aller Zeiten ist abgeschlossen. Was der mittlerweile über 80 Jahre alte Vorbesitzer zu dieser Metamorphose sagen würde, wird sich wohl nie ermitteln lassen. Sein Verständnis von „pfleglich behandeln“ war aber vermutlich ein anderes als das von Stephan Süsens.

QUELLE:  rallye - Das Magazin 07|08 2015
TEXT:  Sebastian Klein
FOTOS:  Marcus Krüger

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