Die Geschichte von M-Sport

Auferstandenen aus Ruinen

Es war ein langes und tiefes Tal, das Malcolm Wilson und seine Mannen durchschritten haben, ehe sie zusammen mit Sebastien Ogier die Weltmeisterschaft gewannen. Jetzt sorgt die Corona-Krise für neue Herausforderungen. Doch der Blick in die Geschichte von M-Sport zeigt, in Cumbria ist man gewappnet.

Er humpelt wieder mal, als er aus dem Kommandotruck kommt. Es ist der Fuß, den er sich schon vor dreieinhalb Jahrzehnten bei der Schottland-Rallye brach. Es ist der Rechte, der so verquer nach hinten stand, dass der erste Arzt sagt: „Du wirst nie wieder laufen.“ Der zweite Chirurg zog selbst das Bein nach – eine Kriegsverletzung. 16 Wochen nach der Operation saß Malcolm Wilson wieder im Rallye-Auto. Er gewann in dieser Saison noch einen britischen Meisterschaftslauf.

Seit ein paar Jahren ist das Gelenk entzündet. Das Laufen geht mal besser, mal schlechter. Drei Operationen haben keine Linderung gebracht. Wilson lässt sich in einen Stuhl sinken und zieht das zu lang geratene Kinn quer zu einem breiten Grinsen: „Ich möchte nicht tauschen.“ Dabei gäbe es dafür genügend Gründe. Kein Teamchef hat so viele Weltmeisterschaften verloren wie der Engländer.

Nehmen wir den November 2001, als vier Fahrer noch Chancen auf den Titel haben. Tommi Mäkinen reißt sich am Mitsubishi früh ein Rad ab, Carlos Sainz segelt mit seinem Ford Focus in den Wald. Aber da ist ja noch Colin McRae, dem ein vierter Platz reichen würde, um sich zum zweiten Mal zum Weltmeister zu krönen. Aber der Schotte will den in der Tabelle hinter ihm liegenden Richard Burns auf keinen Fall den Sieg beim Heimspiel überlassen. Die Presse hat das WM-Finale zum „Battle of the Brits“ hochgejazzt und McRae kommt aus dem Schlachtenmodus nicht heraus. In einer zügigen Rechtskurve wirft er seinen Focus achtkantig ins Unterholz. Den Titel holt mit nur einem Sieg Rivale Burns im Subaru.

Jeder der an Wettkämpfen teilnimmt, kann verlieren, und manchmal ist es eben knapp vor dem Ziel. Aber so oft? Gehen wir ins Jahr 2004, als der ebenso verrückte wie geniale M-Sport-Chefkonstrukteur Christian Loriaux ein revolutionäres Auto baut. Der Ford Focus WRC RS04 ist eindeutig das schnellste Auto im Feld, der Este Markko Märtin mit drei Siegen Titelanwärter, aber die Technik hält nicht, die WM gewinnt Sébastien Loeb.

Überhaupt Loeb. Der überragende Franzose holt sich neun Titel in Folge. Mit seinem Citroën-Team zerstört der Elsässer über fast ein Jahrzehnt die Hoffnungen einer ganzen Fahrergeneration. An guten Tagen sagt Wilson selbst nach herben Klatschen strahlend: „Ist er nicht fantastisch?“ An weniger guten rechnet er: „Hätte es Loeb nicht gegeben, wären wir mindestens vier Mal Weltmeister geworden.“

Es ist einfach Pech, dass die vielleicht besten Jahre des M-Sport-Teams in die Ära des Kannibalen aus Haguenau fallen. Nicht selten hat Gründer und Teamchef Wilson die Faust in der Tasche, wenn er selbst einen solchen Top-Mann hätte an Land ziehen können. Aber die Europa-Zentrale von Ford winkt regelmäßig ab, wenn Wilson die Gehaltsvorstellungen der ganz großen Stars durchgibt. So muss er nach fetten Jahren die Superstars Colin McRae und Carlos Sainz ziehen lassen. Bei Ford hat man andere Sorgen als den Rallyesport. Die Zahlen sind spätestens seit der Finanzkrise tiefrot. „In zehn Jahren habe ich sieben Vorstandschefs erlebt“, erinnert sich Wilson. Vor fünf Jahren konnte er sich den bei Citroën frustrierten Loeb-Jäger Sébastien Ogier nicht leisten. Der ging zu VW und ist praktisch schon vierfacher Weltmeister.

Dann lässt Ford Wilson mit dem Rückzug Ende 2012 im Regen stehen, spätestens jetzt kann Wilson nur noch Fahrer bekommen, die woanders aussortiert wurden, oder er muss selbst junge Talente aufbauen. Schon 1999 hat Wilson den international völlig unbekannten Petter Solberg unter Vertrag genommen. Der allerdings beklagt sich nach zwei Jahren, es hätte nie etwas Schriftliches gegeben. Solberg zieht zu Subaru und wird dort Weltmeister.

Nach Jahren im Unfrieden kehrt Solberg 2012 zu M-Sport zurück. Auf dem Papier ist Ford mit ihm und Jari-Matti Latvala gut aufgestellt, aber was die beiden Nordmänner in dieser Saison aufführen, grenzt an Sabotage. Ein halbes Dutzend Mal werfen sich beide von der Straße. Die Krönung ist der vierte WM-Lauf in Portugal, wo Loeb früh draußen ist und man den Doppelsieg nur von der Straße kratzen muss. Doch die ist rutschig. Latvala fliegt ab. Routinier Solberg müsste es nun richten, aber der rutscht unbedrängt in eine Wiese und verbrennt beim Versuch, die Böschung zur Straße zu erklimmen die Kupplung.

Wilson holt 2013 den bei Citroën unglücklichen Thierry Neuville. Auch ohne Geld aus Köln sichert sich M-Sport mit dem jungen Belgier die Vize-Weltmeisterschaft. Mit dem Emirat Abu Dhabi hat Wilson auf dem Papier einen dicken Sponsor, doch der zahlt nicht. Erst ein halbes Jahr nach Saisonende kommt nach etlichen Briefwechseln der Anwälte Geld, dann unterschreiben die Araber als Hautsponsor bei Citroën.

Seitdem hatte Wilson keinen Geldgeber mehr, dabei hat er alles versucht. „Mein Adressbuch ist so dick, das hätten viele gern“, unkt er. Mit Kundensport hält er den Laden am Leben. Wilson verkauft mit dem Segen des Herstellers Fiestas in verschiedensten Ausführungen, vom Einstiegsauto bis zum World Rally Car. Um ihm unter die Arme zu greifen, hat VW ihm angeblich das GT-Projekt von Bentley zugeschanzt. Es soll auch eine Kompensation dafür sein, dass ihm die Neueinsteiger aus Wolfsburg Latvala weggeschnappt haben, trotz aller Unbeständigkeit der einzige Siegfahrer, der Wilson zur Verfügung stand.

Wie schön hatte das noch ausgesehen, als dem kleinen Unternehmer aus Cumbria 1997 die Ehre zufiel, die aufgelöste Ford-Sportabteilung in Boreham zu übernehmen und fortan als Leiter des offiziellen Werksteams zu fungieren. Das 9.000-Seelen-Nest Cockermouth liegt am nordwestlichsten Zipfel Englands. Es wurde in seiner 800-jährigen Geschichte ein einziges Mal berühmt, weil Fletcher Christian, der Meuterer auf der Bounty, von hier stammte.

Vielleicht auch aus therapeutischen Gründen kaufte Wilson ein leicht heruntergekommenes Anwesen im Norden der Stadt. Dovenby Hall war zuvor eine Nervenheilanstalt. Jetzt kostet es seinen Besitzer Nerven: „Ich mag diesen Stress nicht. Du gehst im Januar in die Firma und fragst dich die ganze Zeit: Wo nehme ich bloß die sieben Millionen her, die ich brauche, um das alles hier am Laufen zu halten.“

Dovenby Hall ist heute eine Vorzeigefabrik für Motorsport mit eigener Motorenfertigung, Kohlefaserbackstube und demnächst auch mit einer eigenen Rennstrecke mitsamt Hotel für potenzielle Kunden. 230 Angestellte arbeiten für das Team M-Sport. „Ich habe hier in meiner Heimat etwas aufgebaut, wo jeder sagte, in der Gegend geht das nie“, sagt er trotzig. Nicht zuletzt deshalb verlieh ihm die Queen 2009 den Titel: „Most Excellent Order of the British Empire“. Malcolm Wilson, OBE, steht nun in seinem Pass, aber den Orden hätte er sofort wieder hergegeben, wenn er dafür die Pflaume zurückbekommen könnte.

Mit Ford, dem deutschen Sportchef Jost Capito und den finnischen Fahrern Marcus Grönholm und Mikko Hirvonen eroberte er 2006 nach einem Vierteljahrhundert Durststrecke den Markentitel und wiederholte den Erfolg 2007, aber in diese Jahre mischt sich auch ein großer Schuss Bitterkeit.

Als Loeb und Grönholm sich 2007 das Duell ihres Lebens liefern, als der Franzose beim vorletzten Lauf in Irland plötzlich einen gebrochenen Stoßdämpfer meldet, kracht Grönholm noch auf derselben Prüfung so heftig in eine Steinmauer, dass er kurz das Bewusstsein verliert. Loeb holt den Titel beim Finale in Wales mit sechs Punkten Vorsprung. „Das war für mich die vielleicht bitterste Niederlage“, sagt Wilson.

Wie bitte? Was ist mit Wales 2009, als der immer als Wasserträger verschriene Mikko Hirvonen nach Grönholms Rückzug zu einer wahren Nummer eins wird und nach der Saison seines Lebens als Tabellenführer ins Finale geht. Aber gerade als Loeb angegriffen hat, springt bei Hirvonen auf einer der letzten Prüfungen die Motorhaube auf. Ohne Sicht wird der Finne chancenlos Zweiter. Die WM verliert er mit einem Punkt.

Und das ist noch nicht einmal das größte Drama in diesem Jahr 2007, als Loeb unter Druck gerät, als er in Polen einen Baumstumpf trifft, als Hirvonen und Latvala mit einem Doppelsieg Ford in der Marken-Wertung plötzlich wieder nach vorn bringen können. An diesem sonnigen Sonntag in den Masuren ist das gesamte Team zu Fuß zur abschließenden Superspecial am Rand des Service-Parks gewandert. Ein Mickey-Mouse-Kurs von zwei Kilometern, ein reines Schaulaufen für die Ford-Finnen.

Aber plötzlich hängt Latvala an der Leitplanke. Unkonzentriert hat er ein mit Beton ausgegossenes Ölfass abgeräumt, seine Mannschaft steht keine 20 Meter daneben. „Meine Augen haben es gesehen, aber mein Kopf wollte es nicht glauben“, sagt Wilson.

Dieses eine Mal in Polen verliert er die Selbstkontrolle, kramt die schlimmsten Schimpfwörter aus seinem Wortschatz. Auf der Wiese neben dem Latvala-Wrack bewacht ihn seine Jugendliebe und Ehefrau Elaine wie ein Hirtenhund ein ausbüchsendes Rind. Malcolm soll jetzt keine Dummheiten machen. Zwei Wochen später gibt der bekannt, dass Latvala auch weiter für ihn fährt.

Zu Ford-Zeiten gibt es derart viele knappe Klatschen auf den letzten Drücker, dass Technikchef Loriaux plädiert, man solle Sonntage bei Rallyes abschaffen. Wilson schwört, dass er all die Niederschläge im Normalfall zügig wegsteckt. „Wenn ich nicht positiv bleibe, was soll dann aus der Mannschaft werden?“

Nicht alle sehen ihn als den väterlichen und fürsorglichen Chef. Wilson gilt als knallharter Geschäftsmann, der sich in den späten Siebzigern 80 Pfund vom Vater leih, um eine Firma zu gründen und dann auf Kredit zwei Ford RS2000 anschaffte, die er mit knapp 500 Euro Gewinn gleich weiterverkaufte. Der deutsche Weltklassefahrer Armin Schwarz redete über ein Jahr lang nicht mit ihm, weil ihn Wilson mitten in der Saison 1997 wegen angeblich nicht gelieferter Sponsorengelder vor die Tür setzte, als der Engländer den vierfachen Weltmeister Juha Kankkunen kriegen konnte.

Aber der Selfmade-Mann Malcolm Wilson, hat sein Unternehmen gut durch alle Krisen gebracht. Das Subaru-Werksteam Prodrive setzt nach dem Rückzug der Japaner die halbe Belegschaft an die Luft, Wilson nach dem Ford-Rückzug nur zwei Dutzend Leute. Seitdem macht er einfach weiter, als wäre nichts gewesen. Das blaue Ford-Logo prangt immer noch über dem Eingang zum Hospitality-Zelt.

M-Sport muss jedes Pfund zwei Mal umdrehen, wenn es um Investitionen geht. Ein selbst entwickelter Motor verschlang eine siebenstellige Summe. Der 2015 fünf Jahre alte Fiesta ist damit noch schnell genug, um die Rallye Korsika anzuführen. Selbstredend verliert der von Wilson aufgebaute Nachwuchsfahrer Elfyn Evans den Sieg am Sonntag, dieses Mal ist mit Ogier der andere Sébastien schneller. Obwohl M-Sport und sein etwa 60-köpfiges WRC-Team seit vier Jahren vergeblich auf einen Sieg wartet, ist Wilson guter Dinge: „Eines Tages wird es schon wieder klappen.“

Wenig später kann Wilson Weltmeister Sebastien Ogier verpflichten, der zwei weitere Titel zusammen mit M-Sport holen kann. Die bislang erfolgsreichste Phase der Truppe. Nach dem Abschied von Ogier muss Wilson erneut kleinere Brötchen backen und die aktuelle Corona-Krise stellt M-Sport vor völlig neue Herausforderungen. Doch in Cumbria sind sie mittlerweile Meister darin, solche Hürden zu meistern.

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