Rallye News

Das Geheimnis von Michelin

Bei den Asphalt-Läufen ist der Trockenpneu ?N FP? von Michelin seit seiner Einführung 1998 nahezu ungeschlagen. Am vergangenen Wochenende feierte der Wunderpneu bereits seinen 29. Sieg - beim 31. Start.

<strong>ERFOLGSFAKTOR:</strong> Seb Loeb kann sich auf seine Michelin-Pneus verlassen

Rallye San Remo, Oktober 1998. Dass sich in der Rallye-Weltmeisterschaft eine kleine Revolution anbahnen würde, ahnten nur die Wenigsten. Und diejenigen, die Bescheid wussten, trugen zumeist einen Overall oder eine Teambekleidung mit dem weltweit bekannten ?Bibendum?: Michelin hatte beim drittletzten Lauf jener Saison einen neuen Asphalt-Pneu eingeführt, den so genannten ?N FP?. Dass ,FP' dabei nicht zufällig für ?Fort Potentiel? (?starkes Potenzial?) steht, schwante der Konkurrenz schon bald.

 

Ausgerechnet Mitsubishi-Pilot Tommi Mäkinen - der als Finne nicht unbedingt im Verdacht stand, ein Asphalt-Spezialist zu sein - verteidigte am Ende der ersten Etappe die Führung. Zwölf seiner bis dahin 13 WM-Siege hatte Mäkinen zuvor auf Schotter errungen. So sehr sich seine Rivalen der Rallye-Piste auch anstrengten: Der Nordmann blieb auf den Sträßchen rund um die norditalienische Schlagerstadt unbezwingbar. Mit seinem vierten Laufsieg am Stück legte Mäkinen einen wichtigen Grundstein für seine erfolgreiche Titelverteidigung. Und für alle Nicht-Michelin-Fahrer sollten bei Asphalt-Rallyes schwere Zeiten anbrechen.

 

?Ich errinnere mich noch genau daran, welch ein riesiger Schritt nach vorne Michelin damals gelungen war?, blickt Didier Auriol zurück. Der Weltmeister von 1994 war auch in jenem Jahr am Steuer eines Michelin-bereiften Corolla WRC für das japanische Werksteam aus Köln unterwegs. ?Vom Start bis ins Ziel warteten diese Pneus mit einem exzellenten Grip auf, der einfach nicht nachließ - obwohl die Reifen permanent extrem harten Bremsmanövern und hohen Kurvengeschwindigkeiten ausgesetzt waren.?

 

In der Tat sollte der neue Wunderpneu aus Clermont-Ferrand die Rallye-Szene auf den Kopf stellen - obwohl trockener Asphalt als Straßenoberfläche die Wettbewerbspneus stärker beansprucht als jeder andere Fahrbahnbelag. Plötzlich erreichten die World Rally Cars in Kurven Fliehkräfte von 1,5 g, das 1,5-fache der Erdbeschleunigung. Unter maximaler Verzögerung wirkten sogar bis zu 1,8 g auf Fahrer und Beifahrer ein. Dies hatte auch für die Konstruktion der Fahrzeuge tief greifende Konsequenzen: Die Partnerteams von Michelin sahen sich gezwungen, die Steifigkeit ihrer Boliden um 20 Prozent zu erhöhen, um den auf das Fahrwerk und das Chassis einwirkenden Kräften Herr zu werden. Ein Novum in der Geschichte dieses spektakulären Sports: Erstmals mussten die Autos den Reifen angepasst werden statt anders herum.

 

Doch neben diesen Höchstleistungen überzeugen die Michelin N FP damals wie heute durch ihre beispiellose Konstanz - ein deutlicher Wettbewerbsvorteil, der auf das Knowhow der Chemiker und Ingenieure des französischen Reifenspezialisten zurückgeführt werden kann.

 

Rallye-Pneus sind eigentlich unterdimensioniert und überfordert

Die Aufgaben, die die 18 Zoll hohen und 228 Millimeter breiten Asphalt-Pneus in der Rallye-Weltmeisterschaft meistern müssen, sind beachtlich: Mit rund 300 PS und einem immensen Drehmoment zerren die Antriebskräfte der Zweiliter-Turbomotoren an den vier angetriebenen Rädern, während das Fahrzeug-Mindestgewicht bei über einer Tonne liegt. Dennoch geht es ohne Gnade über Stock und Stein, brüchigen Asphalt, Sprungkuppen und messerscharfe Straßenkanten. Genau genommen sind sie für das Anforderungsprofil, das sie erfüllen, zu klein dimensioniert.

 

Die immensen Belastungen und rasanten Geschwindigkeiten führen im Laufe einer Wertungsprüfung zu rapide ansteigenden Reifentemperaturen. Ein Effekt, der durch das auf dem Rad gelagerte ?ATS?-System (?Appui temporaire souple?) noch gesteigert wird: Das so genannte ?Mousse? - das im Falle einer Beschädigung die Funktion der Luft übernimmt und das nahezu ungebremste Fortsetzen der Fahrt ermöglicht - weitet sich bei Erwärmung und erhöht dadurch den Innendruck.

 

Unangenehme Folge: Die Auflagefläche des Pneus reduziert sich im Verlauf der WP um etwa 20 Prozent - ein Phänomen, das in dieser Form einzig und allein im Rallyesport auftritt. In der Formel 1 zum Beispiel variiert der Reifendruck nur minimal, die Kontaktfläche des Pneus bleibt Runde für Runde konstant.

 

Doch was passiert dabei innerhalb des Pneus genau? Der Grip hängt von zwei Komponenten ab: zum einen von der Verzahnung der Lauffläche mit dem Straßenbelag - die aufgrund der rauen Oberfläche und durch die Wechselwirkung zwischen Bitumen- und Gummi-Partikeln zustande kommt. Sie macht etwa 70 Prozent des gesamten Grips aus und wird in Millimetern gemessen. Die übrigen 30 Prozent basieren auf Adhäsion, sind also ein Resultat der elektro-chemischen Bindung zwischen Asphalt und den elastomerischen Molekülen des Reifens. Als Maß dient in diesem Fall die Einheit Angström.

 

Die Reduzierung von molekularer Bindung

Ein Asphalt-Reifen erreicht seinen Temperaturhöhepunkt auf einer Rallyeprüfung nach durchschnittlich 15 Kilometern. Durch die geringe Auflagefläche verbinden sich zu diesem Zeitpunkt etwa 20 Millionen Elastomer-Moleküle weniger mit dem Untergrund als zum Start des Wertungsabschnitts. Die übrigen 80 Millionen Partikel berühren weiterhin die Strecke. Obwohl sie sich mittlerweile sehr stark aufgeheizt haben, müssen die einzelnen Moleküle jetzt noch mehr Kraft übertragen, um die Leistungsfähigkeit des Pneu aufrecht zu erhalten - was so nicht funktioniert.

 

Um den unvermeidlichen Leistungsverlust durch die kleinere Auflagefläche zu verringern, versuchte Michelin anfänglich, die Ursache dafür zu unterbinden - 1996 führten die Spezialisten aus Clermont-Ferrand ein Luftdruck-Kontrollsystem ein, das den Druck innerhalb des Reifens auf einem konstanten Level hielt. Die innovative Technologie wurde von der Motorsporthoheit FIA jedoch umgehend wieder verboten und ist bis heute nicht erlaubt. Lediglich Fahrer und Beifahrer dürfen außerhalb des Serviceparks den Reifendruck zwischen zwei Wertungsprüfungen manuell variieren. Auch der Einsatz von Stickstoff als Füllung erwies sich als wenig sinnvoll: Jenes Gleitmittel, das für die Montage der ?Mousse?-Füllung notwendig ist, hebt die Wirkung des Edelgases wieder auf.

 

Pfiffiger Trick: Moleküle, die sich unterwegs selbst verstärken

Also konzentrierten sich die Chemiker von Michelin auf die Moleküle selbst, um diese wandlungsfähiger zu gestalten - und fanden eine geniale Lösung. Der Clou der Reifenspezialisten: Zwischen Kilometer 15 und 30 einer Rallye-Prüfung werden die Partikel ?verstärkt? und wenden so den drohenden Substanzverlust ab. Die genaue Art und Weise, wie diese Methode funktioniert, bleibt natürlich ein gut gehütetes Geheimnis.

 

Auf nassen Pisten hingegen sieht die Situation wieder gänzlich anders aus. Die Reifen werden im Regen weniger stark beansprucht, da sich der Gummi nicht so schnell und auch nicht so stark aufheizt. Die Auflagefläche der Pneus bleibt somit deutlich konstanter. Ein starke Reifenabnutzung wie bei trockener Straße bleibt aus und die optimale Leistungsfähigkeit länger erhalten. Aus diesem Grund spielt die Geschwindigkeit der Kombination Fahrzeug/Reifen im Regen keine so große Rolle. Dafür rückt das Talent des Fahrers in den Vordergrund.

 

Grip = Verzahnung + Adhäsion

Die Verzahnung macht etwa 70 Prozent des gesamten Grips der Reifen aus. Das Phänomen entsteht durch die Wechselwirkung zwischen Bitumen- und Gummi-Partikeln. Auf Rundstrecken lässt sich die Mischung perfekt dem jeweiligen Belag anpassen, da die Ingenieure die Oberfläche und ihre Körnung genauestens analysieren können. Im Rallyesport hingegen müssen die Hersteller ständig Kompromisslösungen finden. Die Charakteristika und Oberfläche der Asphaltpisten ändern sich hier nicht nur von Prüfung zu Prüfung, sondern auch innerhalb eines Wertungsabschnitts gleich mehrfach.

 

Die übrigen 30 Prozent des gesamten Grips kommen durch Adhäsion zustande - ein Resultat der elektro-chemischen Bindung zwischen den Asphalt- und Elastomer-Molekülen des Reifens. Die bei diesen Vorgang wirkenden Kräfte werden auch ?Van der Waals?-Kräfte genannt, nach dem berühmten niederländischen Physiker. Die Stärke der Adhäsion hängt von der Qualität der Verbindung zwischen den Molekülen ab.

 

Um sich die Wirkungen bildlich vorzustellen, bedienen wir uns eines einfachen Vergleichs: Wenn ein Tropfen Alkohol auf einer Glasplatte aufkommt, verteilt er sich schnell in alle Richtungen. Anders sieht es bei Wasser aus: Auch nach dem Auftreffen tendiert diese Flüssigkeit dazu, als Tropfen bestehen zu bleiben. Der Grund dafür liegt in der Adhäsion. Sie hält die einzelnen Wassermoleküle ebenso zusammen wie die Elastomer-Partikel mit jenen des Asphalts.

« zurück