A110 vs. A110

Alpine A110: Allez les Bleus

Die französische Nationalmannschaft – auch Les Bleus genannt – bescherte ihrem Land bei der Fußball-WM in Russland viel Freude. Jetzt kommt etwas Blaues aus Frankreich, was uns allen Freude bescheren möchte. Die Alpine A110 ist zurück. Renault lässt die erfolgreiche Rallye-Marke wieder aufleben. Aber ist der Neuling aus Dieppe ein würdiger Nachfolger? Das mussten wir herausfinden.

Wäre er seinem eigenen Plan gefolgt, hätte Jean Rédélé nach dem Hochschulabschluss eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen. Doch zum Glück konnte Vater Emile der Laufbahn seines Sprösslings noch eine entscheidende Wendung geben. Er überzeugte seinen Sohn, das im Krieg zerstörte Renault-Autohaus zu übernehmen und weiterzuführen.

Der Rest ist Geschichte: Rédélé junior entdeckte seine Liebe für den Motorsport, tunte einen Renault 4CV und nahm damit an Rennen und Rallyes teil – von Le Mans bis zur „Monte“. 1954 gewann er bei der gleichnamigen Rallye einen „Coupe des Alpes“. Als er 1955, also ein Jahr später, mit der Konstruktion eigener Fahrzeuge begann, erinnerte er sich an diesen Triumph und nannte seine Wagen „Alpine“.

Rédélés größte Schöpfung – da gibt es keine zwei Meinungen – war zweifelsohne die A110. Die Plastik-Flunder mit Renault-Technik war so etwas wie der Prototyp des leichten und flinken Straßensportlers. Da reichte sogar ein 1,8-Liter-Motor, um zum Porsche-Killer zu avancieren – auf der Straße wie im Motorsport. Daher verwundert es nicht, dass die Marketing-Spezialisten von Renault bei der Wiederbelebung der 1994 eingestellten Marke Alpine diese alte Modellbezeichnung ausgruben.

Doch wie viel Alpine steckt in der 2017 neu aufgelegten A110, die passenderweise im ehemaligen Alpine-Werk in Dieppe produziert wird? Um das herauszufinden, trafen wir zwei Menschen, die es wissen müssen. Jens und Werner Schäfer aus dem Eifel-Dörfchen Nohn. Die Familie betreibt zwei Renault-Autohäuser und hat sich vor allem als Alpine-Spezialist einen Namen gemacht. Die Schäfers bringen Motoren auf Vordermann, erledigen Komplettrestauration und bieten sogar komplett neue Kunststoff-Karosserien für die alte A110 an. Dass sie auch eine neue A110 ihr Eigen nennen, verwundert wenig.

Beim Eintreffen stehen unsere beiden Testwagen bereits Spalier. Links eine A110 1600 S, rechts eine neue A110 Première Edition. 1.955 Exemplare (eine Hommage an das Gründungsjahr von Alpine) des Sportwagens hat Renault vorab gefertigt. Und obwohl nur wenige technische Details und lediglich eine Preisspanne von 55.000 bis 60.000 Euro bekannt waren, war die komplette Produktionsmenge innerhalb von fünf Tagen ausverkauft.

Nun steht eines dieser ersten Exemplare vor uns. Natürlich im klassischen Metallic-Blau. „Ein Ferrari muss ja auch Rot sein“, sagt Jens Schäfer, der Junior. Doch auch ohne den markanten Farbton, der offiziell ‚Bleu Alpine‘ heißt, wird die Verwandtschaft mehr als deutlich. Die runden Zusatzscheinwerfer an der Front, die Längsrippe auf der Fronthaube, die Einkerbungen an den Fahrzeug-Flanken, die schräg abfallende und weit in die Seiten gezogene Heckscheibe – die Designer der neuen A110 haben die Formensprache des Klassikers intensiv studiert und sie ins neue Jahrtausend transferiert. Einzig das von dem mächtigen Mittel-Diffusor geprägte Heck tanzt etwas aus der Reihe.

Im direkten Vergleich mit ihrem Vorbild mag die neue Alpine wuchtig aussehen, was nicht verwundert, da sie 33 cm länger, 20 cm breiter und 13 cm höher ist. Dabei handelt es sich aber um einen umgekehrten Dirk-Nowitzki-Effekt. Neben dem Basketballer sieht auch ein Walter Röhrl wie ein Zwerg aus – und neben der alten Alpine ist jedes Auto ein gefühltes SUV. De facto reiht sich die Neuauflage von den Abmessungen her zwischen Lotus Elise und Porsche Cayman ein.

Beim Gewicht liegt sie ebenfalls zwischen dem puristischen Briten und dem luxuriösen Deutschen. 1080 Kilo bringt die Alpine auf die Waage, obwohl sie beim Material mit der Tradition bricht. Die Karosserie ist nicht aus glasfaserverstärktem Kunststoff, sondern aus Aluminium. Neu ist auch die Aufladung. Während im Urahn noch Vierzylinder-Saugmotoren arbeiteten, deren Hubraum im Laufe der Zeit von 1296 auf 1796 Kubik anwuchs, ging der Neuling mit der Zeit und verfügt über einen 1,8-Liter-Vierzylinder-Turbo-Benziner mit 250 PS.

Dieser ist – noch ein Bruch mit der Tradition – komplett vor der Hinterachse montiert, und gar nicht so leicht zu finden. Die Renault-Techniker scheinen von der Standfestigkeit des Triebwerks sehr überzeugt zu sein, sonst hätten sie den Weg zum pulsierenden Herz vermutlich nicht so steinig gemacht. Um am Motor arbeiten zu können, muss man zunächst das kleine, aber gut beheizte Gepäckfach öffnen und dort drei Schrauben lösen. Erst jetzt lässt sich die zweite, größere Heckklappe aufziehen. Nun trennt uns noch eine hutablagen-ähnliche Verkleidung vom Triebwerk, die sich mit einem Cent-Stück zwar in Windeseile entriegeln lässt, der umgekehrte Weg ist jedoch nichts für Ungeduldige.

Den altgedienten Alpine-Fahrer dürfte diese kleine Schikane kaum stören, er ist Kummer gewohnt. „Bei der alten A110 war es nicht die Frage, ob an irgendeiner Stelle Wasser ins Cockpit tropft, sondern wo“, frotzelt Werner Schäfer, der Senior. Die Verarbeitungsqualität stand bei Rédélé ziemlich weit unten im Lastenheft. Ein einheitliches Spaltmaß bringt bei einer Tour de Corse oder Rallye Monte Carlo schließlich keine Bestzeiten ein.

„Mach einfach mal die Türen auf und zu“, rät mir Jens Schäfer. Gesagt, getan. Bei der neuen Alpine reichen zwei Finger, um den Türgriff zu ziehen. Butterweich und fast geräuschlos fällt die Alu-Tür zurück ins Schloss. Anschließend drücke ich bei der 1600 S den verchromten Türknopf. Die Tür öffnet sich einen Spalt und blockiert dann. Erst mit leichtem Anheben lässt sie sich zum Öffnen motivieren. Der umgekehrte Weg funktioniert entweder mit roher Gewalt oder mit einem erneuten Anheben.

Bei der Verarbeitung liegen Welten zwischen der Rédélé-Schöpfung und ihrem Nachahmer. Aber darauf wird es wohl auch heute den wenigsten Alpine-Kunden ankommen. Sie wollen den Fahrspaß des ersten Rallye-Weltmeisterautos erleben. Genau das wollen wir jetzt auch und nehmen als Referenz in der alten A110 Platz. Während Werner Schäfer trotz seiner 65 Lenze elegant ins Cockpit gleitet, steht der ungeübte Redakteur rätselnd daneben. Linkes Bein zuerst, dann Hintern und rechtes Bein? Hintern zuerst? Oder doch erst beide Beine.

Als das Rätsel gelöst und alle Körperteile entknotet sind, sitzt es sich in den nach hinten geneigten Ledersitzen aber erstaunlich bequem – und gefühlt direkt auf dem Boden. Die Pedale liegen höher als der Allerwerteste und lassen sich bei Schuhgröße 45 durchaus auch mit einem Fuß alle gleichzeitig betätigen. „Du musst mit dem Ballen kuppeln“, verrät Jens Schäfer. Wieder folgen wir seinem Rat und er hat Recht. Die komplette Sohle ist tatsächlich zu groß.

Anschließend wird es ernst. Roten Hebel umlegen und unter leichtem Gaseinsatz den Startknopf drücken, der Vierzylinder-Sauger erwacht zum Leben. Kupplung und Gangschaltung sind auf den ersten Metern etwas gewöhnungsbedürftig – ist der Gang wirklich schon drin? Aber es braucht nur die ersten Kurven, um den Kult der Marke Alpine zu verstehen.

Jeder Impuls von der Fahrbahn kommt direkt beim Fahrer an, während man mit dem Hintern gefühlte zehn Zentimeter über diese hinwegrauscht. Dasselbe gilt in umgekehrter Richtung. Lenkung, Gas, Bremse – die Befehle werden unmittelbar auf Fahrzeug und Straße übertragen. Es wird oft davon geredet, dass Autos auf Straßen kleben. Doch erst wer eine Alpine gefahren ist, weiß, was das wirklich bedeuten kann. Auto und Straße verschmelzen zu einer Einheit.

Die alte A110 bedeutet Fahrspaß in Reinkultur. Wer in diesem Auto Radio, Navi und Klimaanlage vermisst, sollte am besten gleich aussteigen. Die Soundanlage besteht aus vier Zylindern und wer dieses Auto fährt, für den ist der Weg das Ziel. „Man kann damit aber auch nach Italien in den Urlaub fahren“, versichert uns Werner Schäfer. Sein Sohn ist da anderer Meinung. „Probier‘ mal die neue Alpine“, sagt er mit einem überzeugten Grinsen.

Die Einladung nehmen wir gerne an. Das Cockpit der 2017er-A110 versetzt einen in eine andere Welt, bringt einen aber nicht nur deswegen zum Staunen. Die alte Alpine verzaubert durch ihren Purismus, die neue durch die Liebe zum Detail. Gestepptes Leder an den Innentüren und den 13,1 Kilogramm leichten Schalensitzen erinnert an das berühmte Vorbild, dazu unterstreichen Kevlar-Elemente in Armaturenbrett und Mittelkonsole die Leichtbau-Philosophie der Marke Alpine.

Apropos Mittelkonsole: Einen Schalthebel sucht man hier vergebens. Das 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe von Getrag wird über Schaltwippen am Lenkrad gesteuert. Ehe ich einen Gang einlegen kann, zeigt Jens Schäfer auf eine andere Stelle am Lenkrad. „Den roten Knopf, den solltest du drücken“, verrät er mit erneutem Grinsen. „Sport“ steht dort geschrieben und damit lässt sich zwischen den drei zur Auswahl stehenden Fahrprogrammen Normal, Sport und Track wählen.

Wir beginnen vorsichtig, belassen das Programm auf „Normal“ und geben die Verantwortung für die Schaltvorgänge in die Hände der Automatik. Eine Eingewöhnungszeit ist bei dem neuen Alpine-Modell nicht vorhanden. Von den Schalensitzen fest umschlungen braucht es keine 500 Meter, ehe man sich im Cockpit pudelwohl fühlt. Das kleine Lenkrad reagiert direkt auf jeden Befehl, Gas und Bremse ebenso. Der Motor macht sich mit wohltuenden Klängen bemerkbar ohne aufdringlich zu sein. Radio hören und sich unterhalten ohne zu brüllen – das sind weitere Vorzüge der neuen Alpine.

252 PS hören sich nach heutigen Standards nicht berauschend an, aber dank des niedrigen Gewichts spurtet die Alpine bereits im normalen Fahrmodus beherzt los. So gut, dass es der 7-Gang-Automatik teilweise schwer fällt, Schritt zu halten. Dieser kleine Makel der „Première Edition“ soll auch den Renault-Technikern aufgefallen sein und bei den aktuell erhältlichen (und unlimitierten) Modellen Pure und Légende behoben sein.

Wir halten uns nicht länger daran auf, überspringen den Sport-Modus und gehen direkt auf die Track-Stufe und auf Handschaltung. Jetzt zeigt die Alpine ihr wahres Gesicht. Der Motor faucht einem in den Nacken und die Drehzahl klettert unaufhaltsam. Ein leichtes Klicken der rechten Schaltwippe und das Spielchen beginnt von vorne. Der Spurt von 0 auf 100 km/h ist in 4,6 Sekunden geschafft und wird nur vom Engelchen auf meiner Schulter unterbrochen. „Du bist hier auf einer Eifeler Landstraße, nicht auf dem Nürburgring.“

Gemacht für Landstraßen

Zum Glück braucht die Alpine keine hohen Geschwindigkeiten, um ihre Qualitäten zu zeigen. Genau wie ihre Vorgängerin ist sie für kurvige Landstraßen gebaut worden und klebt bei schnellen Kurvenfahrten förmlich auf dem Asphalt. Bodenwellen spürt der Fahrer auch in der neuen Alpine und auf einer holprigen Eifel-Straße möchte man die Hände am Lenkrad lassen, trotzdem eignet sich die Alpine auch als Reisemobil. Eine Fahrt in den Alpine-Geburtsort Dieppe ganz ohne Rückenschmerzen, das ist jetzt kein Thema mehr.

Die neue A110 bringt die Marke Alpine ins neue Jahrtausend und macht ihrem großen Namen alle Ehre. Der 2007 verstorbene Jean Rédélé hätte sich sein Erbe vermutlich nicht anders gewünscht – genau wie einst sein Vater Emile.

Text: Sebastian Klein
Fotos: Coco Beutelstahl

Quelle: rallye - Das Magazin - 09|10 2018

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