Rallye News

Medizinmänner im Dauerstress

Kälte in Europa, Sandsturm in der Wüste, gesundheitliche Extrembelastungen in Afrika ? das Werksteam von VW hat für die Rallye Dakar 2005 gründliche medizinische Vorbereitungen getroffen, um das gesamte Team optimal zu versorgen

<strong>Dauereinsatz:</strong> Physiotherapeut Stefan Haag während der Dakar

Für Ärztin Sonja Witten und Physiotherapeut Stefan Haag von der Sportklinik Bad Nauheim, die Volkswagen im Marathon-Rallyesport begleiten, hält diese Motorsport-Disziplin einen unabwägbaren Arbeitsalltag mit teilweise exotischen Herausforderungen bereit, die mit der Betreuung im klinischen oder ambulanten Bereich wenig gemein haben.

 

Zu den Aufgaben von Sonja Witten zählen die Bereiche Prophylaxe, die Therapie von Standard-Fällen sowie die Notfallmedizin und die Behandlung bereits vorhandener Krankheiten. "Zusätzlich zu landesspezifischen Verhaltensregeln spreche ich Team-Mitglieder individuell in speziellen Situationen an. Außerdem stehe ich am Service ständig zur Verfügung und beantworte Fragen zu Hygieneregeln", so die 33 Jahre alte Ärztin.

 

Eine zentrale Bedeutung hat der Flüssigkeitshaushalt aller Teammitglieder. "Ich habe gelernt darauf zu achten, dass die Verschlüsse von Getränken absolut intakt sein müssen, denn in manchen Gebieten wird einfach Leitungswasser statt des reinen Getränks vom Handel nachgefüllt", berichtet die Medizinerin. Drei bis vier Literflaschen Wasser pro Tag und Kopf kalkuliert sie. Die Fahrer und Beifahrer erhalten spezielle Mischgetränke mit Elektrolyten, hergestellt vom Institut für Sporternährung Bad Nauheim. Vier verschiedene Arten in drei Geschmacksrichtungen stehen für die Trinkflaschen im Cockpit und das "CamelBak"-Element in der hinteren Fahrzeugsektion des Volkswagen Race-Touareg zur Verfügung. "Die Getränke sind speziell auf die Bedürfnisse im Motorsport abgestimmt worden", erläutert Stefan Haag. So dienen Kombinationen mit hohem Aminosäurengehalt zur Regeneration nach einer Etappe. Elektrolytreichere Mischungen helfen, den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. "Im Idealfall trinken die Fahrer fünf bis sechs Liter pro Tag, um den Verlust auszugleichen", betont Stefan Haag.

 

Der Umgang mit Flüssigkeiten wird von einem weiteren wichtigen Detail dieser Sportart bestimmt. "Die Bakterien der Mundflora vermehren sich bei hohen Temperaturen so sehr, dass ein Austausch der Flaschen untereinander strikt verboten ist und jedes Teammitglied seine Flasche binnen drei, vier Stunden geleert haben sollte", weiß Sonja Witten. Dabei offenbart sich eine zweite wichtige Rolle: Der Ärztin werden nicht nur medizinische, sondern auch psychologische Kompetenzen abverlangt, da bei einer langen Rallye wie der ?Dakar? viele Menschen auf engem Raum für mehr als zwei Wochen rund um die Uhr zusammen leben. "Ich verbringe einen erheblichen Teil meiner Zeit damit, zu überprüfen, ob unsere Maßgaben eingehalten werden", berichtet Sonja Witten. So werden im Eifer der Arbeit manche Regeln schlicht vergessen. "Hygiene ist extrem wichtig", betont sie.

 

Längst zählen auch 50 bis 100 Stifte für die Lippenpflege, sogar Sonnenbrillen und -hüte für die gesamte Mannschaft zur Ausrüstung. Ebenfalls im Gepäck: Sonnencreme, Mückenstichsalbe, Handcreme gegen den aggressiven Staub sowie Taschentücher.

 

Der Ernährung des gesamten Teams als weiterer Teil einer gründlichen Prophylaxe kommt eine so große Bedeutung zu, dass sich Sonja Witten und Stefan Haag persönlich darum kümmern. "Grundsätzlich nimmt Volkswagen an Bord der Lkws haltbare Fertiggerichte mit, die trocken gelagert werden. Während der Rallyes werden durch die Veranstalter Lunch-Pakete ausgegeben, deren Qualität unbedenklich ist. Salate oder Mayonnaise sind wegen möglicher Erreger aber zu gefährlich", so die Siegener Ärztin, die sich auf Reisemedizin spezialisiert hat. Sie schärft auch den Blick der Mitarbeiter für die sorgfältige Auswahl der Speisen. "Selbst das vom Veranstalter angebotene Abendessen ist für Mitteleuropäer nicht immer verträglich", so ihre Erfahrung.

 

[IMG]dakar.jpg[/IMG]

Selbstverständlichkeiten wie länderspezifische Impfungen gegen Gelbfieber, die Atemwegserkrankung Diphterie, verschiedene Formen der Leberentzündung Hepatitis, die Kinderlähmung Poliomyelitis, die Allgemeinerkrankung Typhus, die Hirnhautentzündung Meningokokken-Meningitis oder Tollwut stehen schon lange vor Beginn einer Reise auf der Liste jedes Mitarbeiters. Vor Ort zählen je nach Gebiet die Vorsorge gegen Mücken - etwa wegen des Malaria-Risikos -, gegen die parasitäre Erkrankung Bilharziose oder gegen Durchfall im Pflichtenheft. Im Bereich der Physiotherapie umfassen die vorbereitenden Aufgaben eine Trainings- und Ernährungsberatung der Piloten. "Am Ende eines speziellen Sportprogramms empfehle ich den Werksfahrern von Volkswagen, ihr Training zwei bis drei Tage vor einem Test oder einer Veranstaltung zu reduzieren, um nicht erschöpft anzureisen", erläutert Stefan Haag.

 

Über die Prophylaxe hinaus ist Sonja Witten auch im zweiten großen Bereich - der Behandlung medizinischer Standard-Fälle - auf alles vorbereitet: ob Desinfektion bei Schürfwunden und Versorgung von Brandwunden, die sofortige Kühlung von Prellungen mit "Cold-Hot-Packs", ob Flüssigkeiten und Elektrolyte zur Kreislaufstabilisierung oder Magnesium-Kautabletten gegen Wadenkrämpfe. Für Stefan Haag beginnt die Standard-Arbeit mit individuellen Anliegen der Piloten. Die Entlastung der Kopfgelenke, mobilisierende Techniken für Schultern und Nacken sowie Massagen zur Regeneration sindmeine zentralen Aufgaben", sagt der Physiotherapeut.

 

Die Arbeit des Medizin-Teams umfasst mit der Notfallbehandlung ein drittes großes Gebiet. "Ich bin als Anästhesistin auf diese Aufgaben vorbereitet, die zu Hause im Krankenhaus dem Arbeitsalltag entsprechen", erklärt Sonja Witten. Während normale Krankenhäuser oft eine Maximal-Versorgung anbieten, erfordert der Marathon-Rallyealltag Improvisation und gute Planung. Ob Test oder Rallye: Eine vorherige Absprache mit Impfexperten und Tropenmedizinern, eine Liste der zuständigen Rote-Kreuz-Hilfsstellen, landesspezifische Merkblätter der Weltgesundheitsorganisation WHO, Botschaftskontakte, umliegende Krankenhäuser und deren Grundausstattung, Absprachen mit Helikopter-Piloten sowie die Ausarbeitung von GPS-Punkten für den Transport sind die wichtigsten Vorbereitungen. Bei allen Maßnahmen stimmen sich Sonja Witten und Stefan Haag nicht nur untereinander ab. Eine gezielte Rücksprache mit Dr. Johannes Peil, dem ärztlichen Leiter der Sportklinik Bad Nauheim, garantiert stets eine optimale Betreuung.

 

Gründlichkeit, die sich auszahlt: Die Beurteilung schwerwiegender Verletzungen - etwa von Knochenbrüchen - hat im Ernstfall weitreichende persönliche Konsequenzen für den Betroffenen und entscheidet im Zweifel über Weiterfahrt oder Ende des Einsatzes. Selbst Bisse von Schlangen oder Skorpionen gehören in die Liste der Eventualitäten. Da es unmöglich wäre, Antiseren gegen Bisse oder Stiche durch alle Tiertypen mitzuführen, konzentriert sich die Behandlung auf eine Stabilisierung bis zum Transport ins nächste Krankenhaus. Alleine bei der Rallye Dakar stellt der Veranstalter ein Team von 40 Ärzten mit mobilen Versorgungseinheiten zur weiteren Betreuung bereit.

 

Sonja Wittens Ausrüstung orientiert sich an einer üblichen Liste für Notfall-Einsatzfahrzeuge, der Umfang des Materials ist großzügig bemessen und wird in acht großen Kisten im LKW gelagert. Getreu dem hippokratischen Eid, der jeden Mediziner zur Hilfe an seinen Mitmenschen verpflichtet, wird nicht nur Teammitgliedern, sondern auch anderen Teilnehmern und Zuschauern bei Unfällen oder Krankheiten geholfen. "Bei der Rallye Dakar habe ich einen Motorradfahrer versorgt, der sich am Unterschenkel verletzt hatte. Und in einem Hotel habe ich eine an Diarrhöe erkrankte Frau intravenös versorgt und ins Krankenhaus überwiesen." Eine echte Pause also gibt es während der Rallye Dakar nie - für das Medizin-Team genau so wenig wie für die Fahrer und alle übrigen Teammitglieder.

« zurück