Audi Gruppe-S

Mythos mit vier Ringen

Wer denkt, Audi hätte mit dem S1 die Spitze der Fahnenstange erreicht, sollte sich auf gar keinen Fall mit diesem Auto beschäftigen. Eine Welt würde zusammenbrechen. Vor uns steht ein weißes Irgendwas, mit dem die Ingolstädter ihre Zukunft in der Rallye-Weltmeisterschaft sichern wollten. Ein Prototyp, der zwar den Wechsel auf die Gruppe-S einläutete, aber noch mit Zutaten aus der Gruppe-B gebaut wurde. Ein 750 Kilo Leichtgewicht, angetrieben von einem 600 PS starken Mittelmotor. Willkommen zu einer Begegnung der furchteinflößenden Art.

Audi Gruppe S Prototyp
Optisch gehört der Gruppe-S-Prototyp eher zur rechten LeMans-Seite, aber er ist tatsächlich ein Rallyeauto

Anfang der 1980er Jahre revolutioniert Audi den Rallyesport. Durch eine trickreich angeregte Änderung des Reglements setzte man als erster Hersteller Fahrzeuge mit Allradantrieb ein und war jahrelang unschlagbar. Soweit die Legende. Die Wahrheit sieht ein wenig anders aus. Nachdem die Konkurrenz den quattro-Schock verdaut hatte, zog man rasch mit Audi gleich und ging dabei sogar noch ein paar Schritte weiter. Innerhalb von nur vier Jahren sahen die vier Ringe plötzlich wieder alt aus, nachdem unter anderem Peugeot den 205 T16 aus dem Hut gezaubert hatten.

Natürlich war den Audi-Technikern bewusst, welche konstruktiven Mängel ihr Konzept mit dem über der Vorderachse platzierten Fünfzylinder hat. Die Gewichtsverteilung und das Handling waren eher subotpimal. Gelinde gesagt. Schon 1983 diskutierte man neue Wege, doch Technikchef Ferdinand Piëch bestand auf dem bisherigen Konzept. So mussten die stolzen Audianer mitansehen, wie ihnen die Mittelmotor-Renner immer mehr um die Nase fuhren. Immerhin genehmigte der Chef 1984 einen Sport-Quattro mit verkürzter Karosserie, doch innerlich wusste jeder, dass radikalere Lösungen her müssen. Piëch hatte ein Einsehen und erteilte die Erlaubnis an einer Mittelmotorflunder „Made by Audi“ zu tüfteln. Weil man mit dem neuen Konzept aber der aktuellen Marketingstratgie der Marke in die Parade fuhr, die jeden Serien-Quattro als potenziellen Rallyesieger darstellte, wurde das ganze Vorhaben unter einen gewaltigen Mantel des Schweigens gehüllt. Das Projekt war so geheim, dass selbst die ersten Testfahrten hinter dem eisernen Vorhang in der Tschechei stattfanden und das Auto in einer Kiste mit der Aufschrift „Kenia Test“ dorthin gebracht wurde.

Der erste Mittelmotor-Testträger ähnelte in seiner kantigen Form optisch dem Sport Quattro und nutzte auch unter der Haube viele Teile des aktuellen Einsatzfahrzeugs. Es überraschte kaum jemanden, dass der Prototyp auf Anhieb deutlich schneller war. Die Techniker waren von ihrer Arbeit so überzeugt, dass der stets kritische Walter Röhrl bald hinter das Lenkrad gelassen wurde. Über dessen erste Testfahrt in der Steiermark ranken sich viele Geschichten. Angeblich hatte die Presse einen Tipp bekommen. Angeblich wären Audi-Mechaniker mit dem Auto beim Bäcker gewesen. Was auch immer. Fakt ist: Als plötzlich Fotografen auftauchen um den begehrtesten Erlkönig jener Zeit zu erlegen, bricht Audi die Sache überstürzt ab und verdrückt sich in nach Niederbayern, wo Röhrl auf abgelegenen Straßen den Prototypen ausprobieren darf.

Weil der Fünfzylinder seine Kraft noch lauter als sonst in die Freiheit brüllen darf, bekommen die Dorfpolizisten von den Testfahrten schnell etwas mit und stoppen Röhrl auf frischer Tat. Vor Begeisterung will man ein Foto mit dem Superstar und dessen neuer Flunder machen, doch Röhrl bekniet die Grünröcke inständig, weil die Öffentlichkeit nichts von dem Auto erfahren darf. Erfuhr sie aber trotzdem und das in einer Zeit, als der damalige VW-Lenker Dr. Carl Hahn der Audi- Tochter nahelegte, die Aktivitäten im Rallyesport in absehbarer Zeit zu überdenken und sogar zu beenden. Schlimmer noch: In Wolfsburg hatte man entgegen jeder Abmachung nichts vom neuen Projekt gewusst und als just in diesem Moment doch ein Bild vom neuen Flitzer in den Zeitungen auftauchte, geriet Piëch in eine unangenehme Situation und griff innerhalb von nur zwei Tagen durch. Alle Prototypen wurden unter seinen Augen zerlegt. Das Projekt war zu Ende.

Doch einer hat überlebt. Womöglich weil er nicht in Ingolstadt zur Welt kam, sondern in Neckarsulm. Es ist nicht bekannt, wie Piëch reagierte, als er später erfuhr, dass tatsächlich noch ein Fahrzeug existierte, obwohl er die Vernichtung aller Autos anordnete. Immerhin traute man sich bei Audi nach ein paar Jahren Abstand den Zweitürer im Museum auszustellen. Nur dadurch bekommen wir noch heute einen Eindruck vom Wahnwitz jener Zeit und wie die Zukunft Audi im Rallyesport womöglich ausgesehen hätte. Bevor wir aber zur ungewöhnlichen Optik kommen, heben wir die großen Fieberglas-Hauben an der Front und am Heck. Übrig bleibt ein dünner Gitterrohrrahmen, der gewaltige Fünfzylinder, vier dicke Räder und zwischendrin ein winziges Cockpit, in das sie den hochgeschossenen Röhrl pferchen wollten.

Ausgerüstet mit Gruppe-B-Technik sollte dieser Audi jedoch ein neues Zeitalter einläuten. Das der Gruppe-S. Ab 1988 wollte die FIA die längst aus dem Ruder gelaufenen Gruppe-B-Monster durch die neue Fahrzeugklasse ersetzen. Die neuen Autos sollten mindestens 1.000 Kilo wiegen und von einem 2,4 Liter großen Sauger, oder 1,2-Liter-Turbo mit einer Leistung von maximal 300 PS angetrieben werden. Der Audi Prototyp vor uns wiegt allerdings nur 750 kg und sein Fünfzylinder leistet irgendwas über 600 PS. Man habe halt keinen anderen Motor damals zum Testen gehabt, also verpflanzte man das Gruppe-B-Triebwerk in das kleine weiße Wurfgeschoss. Wie es sich fuhr weiß niemand. Jungfräuliche zwölf Kilometer stehen auf der Uhr, gesammelt ausschließlich vom Umherschieben in der Werkstatt und im Museum! Vielleicht war es auch besser, dass dieses Auto nie gefahren wurde. Wenn man heute auf den schmalen Recaro-Sitzen Platz nimmt und die Enge der Karosse spürt, dann beschleicht einen sofort ein ungutes Gefühl. Nur wenige Zentimeter trennen Fahrer und Beifahrer vom Tank und dem gewaltigen Motor, der Gedanke an die mehr oder weniger nicht vorhandenen Sicherheitsvorkehrungen jener Tage ist allgegenwärtig.

Um den Bau von speziellen Rallyefahrzeugen zu ermöglichen, sollten in der Gruppe-S nur zehn Einheiten für eine Homologation (Gruppe-B 200) nötig sein. Eine Spielwiese für Techniker, an der so ein Fuchs wie Piëch durchaus Gefallen fand. Auch für die Aerodynamiker bot die neue Formel mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Der vor uns stehende Gruppe-SPrototyp hat optisch rein gar nichts mit den bekannten Rallyeautos von Audi zu tun. Er erinnert viel mehr an einen LeMans-Renner, um den sich der Wind schmiegen soll. Die kompakten Außenmaße, der gewaltige Heckflügel und die tiefheruntergezogene Front, so richtig kann man sich diesen Audi nicht auf einer finnischen Schotterprüfung vorstellen. Auch die Scheinwerfer und Heckleuchten sehen gar nicht nach einem Quattro der 1980er Jahre aus. Hätte das Teil keine zwei Sitze und vier Ringe auf der vorderen Haube, uns würden starke Zweifel kommen, was da überhaupt vor uns steht. Bei Audi herrschte in jenen Tagen aber große Euphorie. Ein alter Techniker meinte einmal, dass man fest davon überzeugt war, mit diesem Auto wieder die Messlatte in der Weltmeisterschaft zu sein. Der Audi- Fünfzylinder wäre sowieso der Beste gewesen und hätte nun auch endlich den richtigen Platz im Auto bekommen. Doch zur Gruppe-S kam es nie. Nach den Tragödien in der Saison 1986 verbannte die FISA kurzerhand die Gruppe-B und führte stattdessen die Gruppe-A ein. Audi zog sich wenig später aus dem Rallyesport komplett zurück und der Gruppe-S-Prototyp geriet fast in Vergessenheit.

Doch er könnte bald zum Superstar der Sammlung werden. Bei Audi Tradition ließ man bereits durchblicken, dass der Gruppe-S in absehbarer Zeit tatsächlich einmal gezündet werden könnte. Die nötigen Investitionen in eine kleine Revision hielten sich im überschaubaren Rahmen und die verbauten Teile wären ja quasi fabrikneu. Ein paar Flüssigkeiten getauscht und ein wenig Sprit nachgefüllt, dann müsste nur noch Walter Röhrl hinter dem Lenkrad Platz nehmen und die Sensation wäre perfekt. Die Klänge des Fünfzylinders mit seinem winzig kleinen Endschalldämpfer (war da überhaupt einer?) dürften dann mehr als zwei Polizisten anlocken.

Quelle: rallye - Das Magazin (Ausgabe 09/10 2015)

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