Vierschanzen-Tournee-Special

Kuppen, Sprünge und die Landung: Auf die Technik kommt es an

Während es bei der Vierschanzen-Tournee um den weitesten Sprung und die beste Haltung geht, müssen sich Rallyefahrer an den Kuppen in vornehmer Zurückhaltung üben. Oder doch nicht?

"Verehrte Fluggäste, unsere Flughöhe beträgt 2.500 Millimeter, die Reisegeschwindigkeit liegt je nach Lust und Laune bis zu 170 Sachen. An Bord befinden sich immerhin zwei Notausgänge, aber keine Tragflächen. Wir bitten sie deshalb auf ihren Plätzen zu bleiben und ungedingt zu warten, bis die Anschnallzeichen erloschen sind ..."

Aus der Ferne kommt ein Motorgeräusch, unverkennbar die Sorte World Rally Car. Unruhe macht sich an der Sprungkuppe breit, an der seit Stunden um den besten Zuschauerplatz gerungen wird. Das mit Besatzung 1,4 Tonnen schwere Fahrzeug wuchtet sich aus den Federn wie Raubtier beim Beutesprung. Schön gerade liegt er in der Luft, für einen Moment sprotzelt der Motor und leise vor sich hin. Es ist, als würde auch er wie die Menschen den Atem anhalten. Fast perfekt auf allen vier Rädern landet er zwei Dutzend Meter weiter und verschwindet hinter einem Grünschleier aus dem Bild.

Anerkennendes Murmeln, für den Anfang nicht schlecht. Dann kommt der nächste Fahrer. Der liefert fast eine Kopie des Vorgänger-Sprungs. Genauso schnell, einen Tick weiter, allerdings landet er ein wenig auf der Hinterachse. Wenn es hier Punktrichter gäbe, hätten sie keinen leichten Job. Der weiteste Sprung sorgt jedoch nicht für die Bestzeit, denn das alte Sprichwort lautet: „Du gewinnst die Rallye nicht in der Luft.“ Nur wenn die Räder möglichst viel Bodenkontakt halten, können sie Kraft übertragen, denn (Achtung: Binsenweisheit!) Wasser hat nicht nur keine Balken, Luft hat extrem wenig Grip.

Immerhin kann der Fahrer die Fluglage seines Gefährts sehr wohl bestimmen. Die meisten bremsen vor der Kuppe leicht, um das Auto vorn in die Federn zu drücken. „Da geht das Auto kurz in die Feder, und der Absprung verläuft flacher“, weiß Rallye-Haudegen Armin Schwarz. Mancher gibt dennoch unmittelbar am Schanzentisch wieder ein bisschen Gas, um die Nase etwas aufzurichten. Die Gaspedalstellung ist viel bedeutender für einen guten Flug als beispielsweise die Gewichtsverteilung. Gerade Autos, die besonders viel Masse möglichst nah am Schwerpunkt konzentrieren, haben häufig ein schwer zu kontrollierendes Flugverhalten, weil das Trägheitsmoment so gering ist, dass schon ein leichter Impuls an Vorder- oder Hinterachse eine unkontrollierte Reise verursacht.

Ein Seitenruder gibt es in World Rally Cars nicht, aber ein Höhenruder durchaus. In der Luft lässt sich mit Bremsen die Nase senken, mit Gasgeben anheben. Möglich machen das die schnell rotierenden Massen der Räder. Wer’s nicht glaubt schlage bei Newton nach.

Wichtig zur richtigen Einschätzung der Rampen ist die Art der Streckenführung und die Gestalt der Kuppe. Der berühmte Sprung am gelben Haus in Ouninpohja ist vergleichsweise harmlos, weil er einen flachen Auslauf und eine lange Gerade bietet. Gefürchtet sind die steilen Schanzen, bei denen die Autos zu viel an Höhe gewinnen, denn was sich hochschraubt, muss auch wieder runterkommen, und wenn der Flug zu lange dauert, rammt sich die Nase ungespitzt in den Boden. Fies sind auch manch unscheinbar kleine Kuppen. Ist die Welle kürzer als der Radstand des Autos, katapultiert es häufig das Heck in die Luft, was die Fachleute als „Kickback “ bezeichnen. Eine etwas härtere Feder und eine verstärkte Zugstufe des Dämpfers hinten sollen verhindern, dass die Fuhre ausschlägt wie ein bockender Esel.

Um die Bodenunebenheiten möglichst genau zu charakterisieren, klassifizieren die Profis die Sprünge wie Kurven. Die meisten verwenden drei Kategorien aber unterschiedliche Begriffe. Während die einen die Sprünge nach den jeweiligen Gängen einsortiert, richten sich andere beim Aufschrieb nach der erwarteten Härte der Landung. Die Spanne geht von „nicht so übel“, über „böse“ und „sehr böse“.

Bei der Landung scheiden sich die Geister. Das Aufsetzen auf allen Vieren ist gewissermaßen die Telemark-Landung der Rallyefahrer und führt nicht nur zu besten Haltungsnoten sondern auch zur Schonung des Materials, weil sich die Kräfte gleichmäßig verteilen. Doch derlei Perfektion gelingt selten, und die Fahrer haben durchaus verschiedene Ansichten, wie ein „Hyppi “ in Finnland richtig abzuschließen ist.

Heftig ist eine Landung auf der Nase. Die kostet häufig nicht nur die Frontschürze, sie bedroht auch Leib und Leben von Aufhängungen und Lenkung. Andererseits: Wer auf die Schnauze fällt, kann auch früher wieder lenken. Gigi Galli gibt beim Absprung noch ein Quäntchen Extra-Gas um die Nase anzuheben, denn er landet als alter Motocrosser am liebsten auf den Hinterrädern. Diese Technik schätzt man weniger, weil zuweilen der berüchtigte Klappmesser-Effekt, der die Front um die Hinterachse blitzschnell nach vorn rotieren lässt, die Wirbelsäule auf Block gehen lässt.

Einig sind sich alle, dass nicht schief hängend auf nur einem Rad oder der Seite zu landen ist, denn das belastet nicht nur einen Dämpfer und Querlenker über Gebühr, sondern lässt das Auto auch ganz schnell aus dem Ruder laufen. Allerdings befinden sich diverse Kuppen in eine Kurve. Der Fahrer hat so oft gar keine Wahl, als sein Auto vor dem Sprung schon quer zu stellen, und sich die Landebahn durchs Seitenfenster anzusehen.

Problematisch ist vor allem die richtige Einschätzung von Absprungwinkel und Geschwindigkeit, denn die bestimmen den Landeplatz. Bei einem Trainingstempo von 80 km/h sind nur erfahrene Tiefflieger in der Lage, richtige Einschätzungen zu treffen - ein wichtiger Grund für den großen Heimvorteil der Finnen bei der Rallye Finnland. Doch selbst die Lokalhelden erleben des Öfteren die ein oder andere Überraschung. „Ein Unterschied von zehn Stundenkilometern auf dem Tacho kann einen großen Effekt haben“, sagt Ex-Werksfahrer Mikko Hirvonen.

Die meisten Abgänge passieren allerdings nicht auf den großen Abschussrampen sondern eher auf den kleinen Wellen, die gerade ausreichen, um das Auto gerade so leicht werden zu lassen, dass die Haftung der Räder abreißt und sich die verdutzten Insassen einen Wimpernschlag später ein wenig jenseits der vereinbarten Fahrlinie befinden.

Gerne verweisen erfahrene Fluglehrer wie Ex-Weltmeister Marcus Grönholm darauf hin, dass sich ein Auto in der Luft nicht steuern lässt, weshalb man erstens seinen Absprungpunkt sehr sorgfältig wählen sollte, und zweitens sein Tempo wohl dosieren, um nicht zu viel Zeit nutzlos in den Wolken zu verplempern. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, der Trend geht eher in die andere Richtung. Es widerstrebt einfach der Natur des Rallyefahrers, den Hahn zuzudrehen und außerdem fliegen sie alle gern. Vor allem die jungen Wilden lieben das Spektakuläre. Und auch Rekord-Weltmeister Sebastien Loeb legte auf den finnischen Kuppen ein immer wilderes Gebaren an den Tag: „Ich kann das Gequatsche nicht mehr hören, dass man vor den Sprüngen immer bremsen soll. Ich habe meinen Aufschrieb Jahr für Jahr nach oben korrigiert und fahre jetzt immer mehr Kuppen voll.“ Loebs Argument: „Wenn du statt mit 180 mit 150 abspringst und dahinter liegt eine Gerade, verlierst du viel zu viel Zeit.“

Die ungelösten Glaubensfragen des Rallye-Weitspringens haben für die Zuschauer einen schönen Nebeneffekt: Jedes Jahr versuchen wieder einige Verrückte, den Himmel zu berühren und manch anderer hat sich einfach verschätzt und unfreiwillig versucht, die Umlaufbahn des Planeten zu verlassen. Selbst erfahrene Rallye-Fotografen sind in der Lage vorherzusagen, ob bei doppelt angegangenen Prüfungen der erste oder der zweite Durchgang spektakulärer wird. Und auch wenn die Sprünge vielleicht weniger als ein Prozent der Strecke ausmachen, für die Fans sind sie hundertprozentig die attraktivsten Stellen zum Zuschauen.

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